Jährlich werden in Deutschland ca. 18 Millionen Tonnen Lebensmittel verschwendet. Gerade Supermarktketten oder große Lebensmittelproduzenten sehen sich oft gezwungen Ihre Produkte wegzuschmeißen, weil diese z.B. das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten haben, obwohl sie eigentlich noch für lange Zeit zu 100% genießbar wären. Um gegen dieses Phänomen anzukämpfen, ist das Startup SIRPLUS entstanden, welches sich deutschlandweit für die Rettung von Lebensmittel engagiert. Im Interview mit Farmitoo erzählt Raphael Fellmer, Gründer von SIRPLUS, über sein Projekt, dessen Mission und dessen Zukunft!
Guten Tag Raphael! Zuerst würde ich Dich gerne fragen, ob Du uns SIRPLUS kurz vorstellen könntest: Was ist SIRPLUS und wofür steht dieser Name?
Wir von SIRPLUS sind ein deutschlandweit agierendes Social Impact-Startup, das sich gegen Lebensmittelverschwendung einsetzt. Wir bringen überschüssige Lebensmittel zurück in den Kreislauf, indem wir sie in unseren Rettermärkten und in unserem Online Shop zum Verkauf anbieten. In Zusammenarbeit mit 800 Produzent*innen und Großhändler*innen retten wir wertvolle Lebensmittel, die die Tafeln nicht abholen, die aber allerbestens genießbar sind. Auf diesem Weg konnten wir seit 2017 mit 300.000 Kund*innen bereits über 3 Millionen Kilogramm Lebensmittel vor der Verschwendung bewahren!
Unser Name ist ein Wortspiel und leitet sich vom englischen “surplus” ab, das Überschuss, Überangebot bzw. Mehrbetrag bedeutet. Er spiegelt also den immensen Überschuss von Lebensmitteln wider, der derzeit in Deutschland bei einem Drittel der Gesamtproduktion liegt und den wir unseren Kund*innen zugänglich machen. Das “SIR” anstatt des “sur” symbolisiert unseren Service, den wir den Verbraucher*innen anbieten. Außerdem ist es für uns ein Zeichen der Wertschätzung von “unperfekten”, überschüssigen, krummen, abgelaufenen und trotzdem köstlichen Lebensmitteln. Das “PLUS” steht zusätzlich für den großen Wert, den Lebensmittel haben.
Welche war die Idee, die die Gründung von SIRPLUS inspiriert hat? Warum ist das Retten von Lebensmitteln gerade heute so wichtig?
Hinter SIRPLUS steht die Vision von einer Welt, in der alle Menschen genügend zu essen haben und alle produzierten Lebensmittel gegessen werden. 18 Millionen Tonnen Lebensmittel werden jährlich in Deutschland verschwendet. Das entspricht einer LKW-Ladung pro Minute! Diese Erkenntnis hat 2009 bei mir dazu geführt, dass ich zum Lebensmittelretter wurde – erst über das Containern, dann über den Aufbau der Lebensmittelretter-Bewegung, die heute foodsharing heißt. Mein späterer Gründungspartner Martin Schott und ich haben aber mehr und mehr realisiert, dass trotz ehrenamtlichen Engagements Lebensmittel in der Tonne landen, deren Rettung den Rahmen von foodsharing und den Tafeln sprengt. Laut Schätzungen des WWF handelt es sich dabei um einige Millionen Tonnen, die bei Produzent*innen, Hersteller*innen und Großhändler*innen anfallen.
Seit 2017 haben wir gemeinsam an der Idee gearbeitet, auch diese Mengen zu retten – bis zur Eröffnung unseres ersten SIRPLUS Rettermarktes im selben Jahr. Seitdem schicken wir unseren Kund*innen auch leckere, gerettete Lebensmittel deutschlandweit direkt vor die Haustür!
Lebensmittelretten zum Mainstream zu machen ist besonders jetzt wichtig, da die Klimakrise unser aller Leben mehr und mehr beeinflusst – und die Zeit abläuft, etwas gegen diese Entwicklung zu unternehmen! Für jedes Produkt, das in unseren Regalen steht oder per Paket verschickt wird, wurden enorme Mengen an Treibhausgasen, Wasser und Energie verbraucht. Indem wir es vor der Verschwendung bewahren, verhindern wir, dass die Produktion der Lebensmittel vergeudet und zur Klimabelastung wird – und setzen uns für eine enkeltaugliche Zukunft ein, bei der jeder Mensch ganz einfach Teil der Lösung werden kann!
Wie genau funktioniert der Kreislauf, in dem SIRPLUS agiert? Welche weiteren Akteure sind daran beteiligt?
Wir retten vor allem bei Großhändler*innen, Produzent*innen und Landwirt*innen, bei denen große Mengen von überschüssigen Produkten anfallen. Wichtig ist uns das Tafel-First-Prinzip, das bedeutet: Die Tafeln haben immer Vorrang. SIRPLUS ergänzt die bedeutende Arbeit der Tafeln vor allem beim Retten größerer Produktmengen, von ausgefallenen Produkte sowie Pfandartikeln oder Alkohol. Überschneidungen bei Kooperationen mit Unternehmen gibt es kaum. Bei wenigen Ausnahmen wie der METRO retten wir nur das, was die Tafeln nicht mitnehmen.
Sind die geretteten Produkte einmal bei uns angekommen, testet das Qualtätsmanagement-Team sie ausführlich und sorgfältig auf ihre Genießbarkeit und Qualität. Teilweise werden die Lebensmittel nochmals mikrobakteriell im Labor überprüft. Ausschlaggebend ist für uns nicht das Mindesthaltbarkeitsdatum, das in erster Linie eine Garantie der Produzent*innen für die Perfektion ihrer Produkte darstellt. Unsere Erfahrungen zeigen, dass Lebensmittel Wochen und meist sogar Monate nach dem Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums noch bestens genießbar sind. Anders ist das beim Verbrauchsdatum, das die Haltbarkeit von Fisch, rohen Eierspeisen und frischem Fleisch angibt und als klare Deadline zu verstehen ist. Einmal auf ihre Qualität getestet, verpackt das Team in unserem Lager die leckeren Produkte entweder für den Transport in die Rettermärkte oder die Reise zu unseren Kund*innen. Sie können sich entweder in unserem Online Shop mit Retterboxen überraschen lassen oder ihre Lieblingsprodukte selbst auswählen.
Welche Arten von Produkten bietet Ihr in Euren Rettermärkten und in Eurem Online Shop an?
Unsere Produktpalette ist bunt gemischt – wir retten grundsätzlich alles, was wir retten können und was genießbar ist! Von biologischen und veganen Aufstrichen, Müslis oder Riegeln, über konventionelle Eistees oder Chips bis zu leckeren Suppen für den schnellen Hunger ist für jeden Geschmack etwas dabei.
Zusätzlich zu den geretteten Produkten, bei denen wir die Auswahl wenig steuern können, haben wir auch ein Sortiment aus Grundnahrungsmitteln da, das aus Nudeln, Saucen oder Aufstrichen besteht. Außerdem bieten wir nachhaltige Drogerieprodukte und unsere Retterausrüstung an, die eine ökologisch sinnvolle Grundausstattung wie beispielsweise nachhaltige Zahnbürsten oder Obstbeutel beinhaltet. Das kaufen wir zu, damit die Menschen ihren kompletten Einkauf bei uns erledigen können. Neuer im Sortiment sind die Produkte unserer SIRPLUS-Eigenmarke. Wir stellen beispielsweise leckere Nussmuse aus geretteten Mandeln oder Cashews her.
Selbst wenn eine Marke oder Verpackung nicht so nachhaltig ist, wie wir es uns wünschen, ist es uns wichtig, das Produkt trotzdem zu retten! Schließlich wurden die Ressourcen für Produktion, Lagerung und Transport bereits verbraucht.
Wie werden die Gewinne von SIRPLUS weiter investiert?
Langfristig möchten wir das deutschlandweite Lebensmittelretten nicht nur durch unseren Online Shop, sondern auch durch die Eröffnung weiterer Rettermärkte ermöglichen. Die Ausarbeitung eines Franchise-Konzepts steht deshalb ganz oben auf der Liste unserer Investitionspläne, wozu auch die Expansion ins Ausland gehört. Außerdem möchten wir die Bandbreite unserer SIRPLUS-Eigenmarke erweitern. Neben unseren Nussmusen und dem eingemachtem Obst möchten wir noch mehr überschüssige Rohstoffe zu köstlichen Endprodukten weiterverarbeiten.
Bislang haben wir zwar schon Millionen von Produkten eine zweite Chance gegeben, Gewinne haben wir aber noch keine gemacht. In den nächsten Jahren möchten wir weiter wachsen, weil es noch Millionen Tonnen überschüssiger Lebensmittel gibt, die wir gemeinsam mit unseren Kund*innen retten wollen. Uns geht es bei SIRPLUS nicht um Profit, sondern darum, möglichst vielen Menschen Mut zu machen, auf ihre Sinne zu vertrauen anstatt Lebensmittel zu verschwenden.
Wie wird sich Deiner Meinung nach in Zukunft der Lebensmittelmarkt entwickeln und welche Rolle wird SIRPLUS in dieser Entwicklung spielen?
Da das Thema Lebensmittelverschwendung unserem Eindruck nach mehr und mehr in den Fokus der Verbraucher*innen rückt, wird diese Entwicklung hoffentlich auch den Lebensmittelmarkt beeinflussen. Wenn Verbraucher*innen nachhaltigere Kaufentscheidungen treffen, wird sich das auf die Anbieterseite auswirken – und hoffentlich zu umweltfreundlicheren und klimaneutraleren Alternativen führen, beispielsweise beim Transport oder der Verpackung.
Wir möchten unseren Beitrag für mehr Nachhaltigkeit nicht nur durch den Weiterverkauf von geretteten Lebensmitteln leisten, sondern setzen uns auch durch Veranstaltungen wie unseren SIRPLUS-Talk und unsere Bildungsarbeit dafür ein, Lebensmittelretten zum Mainstream zu machen. Es ist uns eine Herzensangelegenheit, die Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und damit auch die Lebensmittelindustrie zum Umdenken anzuregen! Wir sind dankbar, dass mehr und mehr große Akteure aus dem Einzelhandel auf uns zukommen und sich gemeinsam mit uns aktiv für Lebensmittelwertschätzung und gegen Verschwendung einsetzen.
Ich bin davon überzeugt, dass wir das Ziel der Vereinten Nationen, Lebensmittelverschwendung bis 2030 um 50% zu reduzieren, erreichen werden. Wir mit SIRPLUS leisten dafür einen wichtigen Beitrag!